Kultur und Wein

das beschauliche Magazin


Maria Temnitschka, Tausendfüssler nach 991. Fuß- Amputation, 2011

Maria Temnitschka, Tausendfüssler nach 991. Fuß- Amputation, 2011

WUNDERKAMMER Ein Parcours durch die Welt des Staunens

Daniela Brill Estrada Gathering dormancies, 2017–2024

Daniela Brill Estrada Gathering dormancies, 2017–2024

Was schon immer gesammelt wurde: Der Einkopfzwilling, ein Axolotl, Prunkwanzen oder graue Zeiten.

In der Renaissance gehörte es zum guten Ton, Sammlungen von Objekten anzulegen, die über das gängige Begreifen hinausgingen. Dazu zählten Artefakte aus kaum erhältlichen exquisiten Materialien, Relikte schwer erklärbarer Naturphänomene, exotische Bildwerke und seltsame Gerätschaften für okkulten Verwendungszweck. Leisten konnten sich derlei Raritäten mit dem Ruch des Mirakels nur die Reichsten, allen voran Fürsten und gebildete Bürger, die mit diesem Zusammentragen auch das unbekannte Wissen ihrer Zeit für sich greifbar machen wollten. Ihre Schlösser und Paläste sind mittlerweile Museen, die aus der einstigen Sammelleidenschaft guten Gewinn ziehen, indem ihre Wunderkammern von Besuchern gegen gutes Geld gestürmt werden.

Ein solcher Raum des Staunens findet sich derzeit auch im Wiener Künstlerhaus im ersten Stock.

Johannes Rass Cervus Elaphus III, 2023 © Johannes Rass/Bildrecht Wien Foto: Roland Zygmunt

Johannes Rass Cervus Elaphus III, 2023 © Johannes Rass/Bildrecht Wien Foto: Roland Zygmunt

Es ist zu einer Wunderkammer geworden, die von Mitgliedern der Künstlerhausvereinigung allein zum Zweck des Wunderns und Bewunderns eingerichtet wurde. Ausgewählt und geordnet wurden die Kunstwerke von Kurator Günther Oberhollenzer. In erster Linie sind es Frauen, deren künstlerisches Werk die passenden Ideen lieferte. Wie bei den berühmten Vorbildern wurden die einzelnen Abschnitte der Ausstellung mit lateinischen Begriffen benamst. Die „Introductio“ lässt zuerst nach oben blicken, zu den wundersam schwebenden Skulpturen von Theres Cassini, bevor die mit kuriosen Details gefüllten Objektkästen von Oleg & Ludmilla einen Vorgeschmack auf das Kommende bieten. In „Naturalia & Artificalia“ verwirren Tierfotografien von Johannes Rass die Eintretenden. Ein Hirsch, ein Schwein und ein Stier sind zum Teil enthäutet und schaffen schlechtes Gewissen, wenn ein Video ihre Verarbeitung in einer Fleischerei zeigt.

Jeremias Altmann, Andreas Tanzer, Grey Time

Jeremias Altmann, Andreas Tanzer, Grey Time

Dass das Sammeln eine künstlerische Strategie ist, beweist „Collectio“ mit dicht bestückten Schaukästen von Mario Wesecky, einem Flohmarkt als Ort des Sammelns von Małgorzata Bujnicka und einer Akkumulation von ornamentalen Motiven, wie sie Viktoria Popova geschaffen hat. Mit dem Andenken an ihre Großmütter setzen sich Karin Maria Pfeifer, Rosa Roedelius und Linde Waber im Sinne von „Memoria“ auseinander. Sie sehen ihre Sammelleidenschaft im Auftrag „Nur ja nichts wegschmeißen! Man könnte es irgendwann noch brauchen“. Dagegen ist die Aussicht in „Futurum“ eher düster. Zu durchqueren ist die „Grey Time“ von Jeremias Altmann und Andreas Tanzer.

In ihrer Endzeit ragen aus dem Bauschutt Reste unserer Kultur in Form von historischen Statuen. Aus dem überraschten Staunen wird an dieser Stelle ein Fürchten, also eine unmittelbare Reaktion auf das Gesehene, ein heutzutage im Kunstbetrieb seltener Effekt, der in emotionalen Variationen als roter Faden durch die gesamte Ausstellung führt. Zu all dem gibt es einen Katalog, der nicht nur die Kunstwerke zeigt, sondern in einem Text von Franzobel das Phänomen Wunderkammer literarisch überhöht zur Betrachtung stellt.

Theres Cassini Königstiger, 2013 © Theres Cassini/Bildrecht Wien

Theres Cassini Königstiger, 2013 © Theres Cassini/Bildrecht Wien

Statistik