NITSCH: das Buch, mächtig wie sein Gesamtkunstwerk
Von der „mitreißenden Flut ritueller Formgebung und dampfender Farben“
(Rudi Fuchs)
„Das Tuch hängt an der Wand. Zuerst klatscht die nasse Farbe darauf, mit Spritzern nach allen Seiten, danach läuft die übrige Nässe nach unten… Das Farbwerfen wurde so lange fortgesetzt, bis das Auge des Künstlers urteilte, dass die Bilddichte ausreichte“, beschreibt Rudi Fuchs die Entstehung eines der Schüttbilder, die Hermann Nitsch ebenso bekannt wie umstritten gemacht haben. Daraus erklärt sich der kreative Prozess, dem für sich betrachtet allzu gerne das Künstlerische, Könnerische abgesprochen wurde.
Jeder derartige Einwand geht aber ins Leere, wenn man den Blick auf das umfassende Schaffen von Hermann Nitsch richtet. Er ist der Schöpfer des Gesamtkunstwerks schlechthin, dem genialen Zusammenwirken von Malerei, Musik, Dramatik und Philosophie. Damit verbunden ist die Berührung aller Sinne, von den unbewussten Tiefen der Urängste mit medizinisch blutigen Aktionen über die irritierende Auseinandersetzung mit Messgewändern und Kreuzen bis zum Rausch dionysischer Ekstase im Orgien Mysterien Theater.
„Das ist NITSCH!“ war bei der Präsentation des Buches zu hören; gemeint ist damit, wer es gelesen hat, weiß über den Künstler Bescheid. Tatsächlich ist es ein umfassendes Kompendium über das Werk von Hermann NItsch, der bei dieser Gelegenheit bewusst nicht von einer Darstellung seines Lebenswerks sprechen wollte; dafür hat er noch zu viel vor. Es reicht aber aus, um einen mehr als opulenten Band mit 969 Seiten zu erstellen. Dass der Tausender nicht voll geworden ist, mag verlagstechnische Gründe gehabt haben.
Stoff hätte es genug gegeben – und für Hermann Nitsch wäre es die Erfüllung eines offen geäußerten Wunsches gewesen: 1000 als Zeichen der Vollendung.
Man nähert sich dem Phänomen Nitsch in seinen Texten, in den er über den Hang zum Gesamtkunstwerk schreibt, über das Sein an sich nachdenkt und den Aufgabenbereich des Orgien Mysterien Theaters absteckt. Jedes in seinem Werk anklingende Thema wird intensiven Reflexionen unterzogen, so auch das Christentum und der Umgang mit sakralen Gegenständen. Es folgen Manifeste, unter anderem die Blutorgel aus 1962 oder „das lamm“ (1964). Ein umfangreicher Teil lässt den Betrachter die Aktionen des Orgien Mysterien Theaters in aufregenden blutigen Bildern nacherleben. Immer wieder unterteilen Textbeiträge Fotostrecken, zum Beispiel „Die gigantische Symphonie“ von Günter Brus.
Für Musiker eher befremdlich erscheinen die Ausschnitte der Partitur der 9. Sinfonie – die Ägytische, die aber trotz der eigenwilligen „Notation“ von einem Orchester und einer Blasmusikkapelle beeindruckend in Klänge umgesetzt wurde. Eine weitere Verbindung von Malerei und Musik sind Inszenierungen an Opernhäusern, in denen die Werke großer Komponisten mit der Kunst von Nitsch durchaus immer wieder neue Dimensionen des Erlebens erfahren haben und damit in gewisser Weise zum weltumspannenden Gesamtkunstwerk eines Hermann Nitsch beigetragen haben.
HERMANN NITSCH Das Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters, Michael Karrer (Hg.)