Kultur und Wein

das beschauliche Magazin


Christian Kainradl als Aksenti Iwanow Proristschin © Bettina Frenzel

Christian Kainradl als Aksenti Iwanow Proristschin © Bettina Frenzel

DAS WERDEN DES IRRSINNS oder Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen

Christian Kainradl als König Ferdinand VIII. © Bettina Frenzel

Christian Kainradl als König Ferdinand VIII. © Bettina Frenzel

Christian Kainradl durchlebt die Flucht eines subalternen Beamten aus seiner Nichtswürdigkeit.

Wenn man Hunde reden hört und feststellen muss, dass die Köter einander Briefe schreiben, wäre es höchst an der Zeit, sich in psychologische Behandlung zu begeben. Aksenti Iwanow Proristschin ist sich bewusst, „dass ich seit einiger Zeit manchmal Dinge höre und sehe, die vor mir noch niemand gesehen oder gehört hat.“ Was ihn aber nicht irritiert. Für ihn sind derlei absurde Beobachtungen eher die Auswirkung einer Berufung zu Großem. An seiner Dienststelle hat er Akten zu bearbeiten und ist Herr über den Stempel. Über ihm gibt es noch den ihn scharf kontrollierenden Amtsrat und noch eine Stufe höher den mit scheinbar übermenschlichem Charakter ausgestatteten Direktor. Proristschin hat das Privileg, dessen Bleistifte spitzen zu dürfen. Eine zufällige Begegnung mit dessen Tochter löst in ihm nicht nur eine unerwiderte Liebe, sondern schließlich den geistigen Verfall, verbunden mit einem pathologischen Größenwahn aus.

 

Verfasst hat diese Miniatur Nikolai Gogol, 1809 im Welyki Soroschynzi (Ukraine) geboren und, heute eine bittere Ironie, als Dichter in den russischen Olymp der Literatur aufgestiegen.

Es ist zum einen eine Satire auf das vom Adel gestellte Beamtentum im Zarenreich, zum anderen ist es das ungemein nachvollziehbar gezeichnete Porträt eines Versagers, dem sich der Wahnsinn als glänzender Weg aus seiner persönlichen Niedrigkeit eröffnet. Im Scalarama erzählt Christian Kainradl das Geschehen im chronologischen Ablauf von den Aktenschränken bis ins Irrenhaus. In der Regie von Leopold Selinger pendelt er als Kleinadeliger Aksenti Iwanow Proristschin zwischen Stahlrohrbett, Schreibpult und dem Schreibtisch des Direktors. In dieser Triangel eines unerfüllten Alltags werden abstruse Ideen zur Wirklichkeit und gipfeln in der Gewissheit, König Ferdinand VIII. von Spanien zu sein, der im Irrenhaus von seinem „Kanzler“ fast zu Tode geprügelt wird. Es ist ein ideales Stück für diese zum Theater umfunktionierte Kellerröhre. Die räumliche Nähe von Darsteller und Publikum überträgt ummittelbar die Emotionen, verstärkt vom wuchtigen Einsatz eines Schauspielers, der die verschlungenen Gedankenwege seines verrückten Helden säuberlich entwirrt und dem allgemeinen Verständnis offenlegt.

Christian Kainradl im Irrenhaus © Bettina Frenzel

Christian Kainradl im Irrenhaus © Bettina Frenzel

Der Streit, Ensemble © Bettina Frenzel

Der Streit, Ensemble © Bettina Frenzel

DER STREIT in der Morgendämmerung der Menschheit

Adrian Stowasser, Ildiko Babos, Anselm Lipgens © Bettina Frenzel

Adrian Stowasser, Ildiko Babos, Anselm Lipgens © Bettina Frenzel

Eine uralte Frage lässt sich auch im Zeitalter einer allwissenden KI nicht beantworten.

1744 fand die Uraufführung der Komödie „La Dispute“ statt. Verfasst hat sie Pierre Carlet de Marivaux, ein der frühen Aufklärung verpflichteter französischer Schriftsteller. Darin geht es um die Entscheidung, wer mit der Untreue angefangen hat, die Frau oder der Mann. Der Aufbau ist vordergründig spielerisch, bei genauem Hinsehen jedoch grausam und die Menschen an sich verachtend. Trotz gegenteiliger philosophischer Meinungen geisterte damals durch die Gehirne der Gebildeten noch der Glaube an die Tabula rasa, als die ein Mensch auf die Welt komme und lediglich von gesellschaftlichem Rang, Erziehung und Bildung zu einer vollständigen Person beschrieben würde. So lädt der Fürst seine Angebetete, sie heißt Hermiane, ein, Zeugin eines Experiments zu sein. Vier Menschen wurden als Babys absolut voneinander und der übrigen Umwelt abgeschirmt, um sie dort von zwei Dienern betreut ohne weitere Kontakte aufwachsen zu lassen. Mit dieser Versuchsanordnung soll die Morgendämmerung der Menschheit nachgestellt werden und der ewige Streit zwischen den Geschlechtern entschieden werden.

Anaïs Marie Golder, Stanislaus Dick, Adrian Stowasser, Viktoria Hillisch © Bettina Frenzel

Anaïs Marie Golder, Stanislaus Dick, Adrian Stowasser, Viktoria Hillisch © Bettina Frenzel

Clemens Fröschl, Teresa Renner © Bettina Frenzel

Clemens Fröschl, Teresa Renner © Bettina Frenzel

Das Scalarama, der ideale Ort für grandiose Spektakel, ist nun Schauplatz dieses im Grunde perversen Gedankenspiels aus dem 18. Jahrhundert. Vanja und Peter Fuchs haben jedoch in ihrer Inszenierung einige Jahrhunderte übersprungen, ohne auf den Reiz des Rokoko zu verzichten. Die gezierte Sprache von Marivaux wurde ebenso wie der vor Geilheit bebende Fürst (Anselm Lipgens) und die seiner Zudringlichkeit nicht abholde Hermiane (Ildiko Babos) in ihrer Zeit belassen.

Die beiden ziehen sich jedoch bald in eine Loge zurück, um bei Sekt und mehr ein bizarres Schauspiel zu beobachten. Die Zukunft kann losgehen. Die Diener Carise und Mesrou sind Roboter mit lächelndem Gesicht, denen Teresa Renner und Clemens Fröschl gespenstische Maschinenhaftigkeit verleihen. In Glasröhren, einer Art Retorten, leben Eglé (Viktoria Hillisch), Azor (Stanislaus Dick), Adine (Anaïs Marie Golder) und Mesrin (ein akrobatischer Adrian Stowasser). Zum Plaisier des Fürsten werden sie befreit. Eglé ist die erste, die mit Hilfe der Humanoiden in einem Bach ihr Spiegelbild erkennt und vor Eitelkeit über ihre Schönheit nahezu platzt. Sie merkt auch sofort die Anziehung des Unterschieds, als Azor erscheint und ihre Hände küsst. Den ersten Konflikt gibt es mit Adine, die ebenfalls in sich vernarrt ist, aber von Mesrin geliebt wird. Es kommt, wie es kommen muss, meint der Franzose Marivaux. Kaum ist Eglé mit Mesrin allein, schon ist der der Interessantere und vice versa geht es Azor mit Adine nicht anders. Nach einer handfesten Auseinandersetzung heißt es also Unentschieden in dieser, wie es im Untertitel heißt, „Untersuchung am offenen Herzen“.

Der Streit, Ensemble © Bettina Frenzel

Der Streit, Ensemble © Bettina Frenzel

Die beiden Protagonisten: Bernie Feit und der Kontrabass © Bettina Frenzel

Die beiden Protagonisten: Bernie Feit und der Kontrabass © Bettina Frenzel

DER KONTRABASS Duett mit Instrument und Bernie Feit

Bernie Feit und die Schubertbüste © Bettina Frenzel

Bernie Feit und die Schubertbüste © Bettina Frenzel

Dramatischer Aufschrei eines in die Tiefe verbannten Musikers

Auf der Bühne, der bescheidenen Wohnung eines beamteten Musikers im Staatsorchester, stehen einander ein Schauspieler und sein übermächtiges Instrument vor den mitleidlosen Augen einer Büste von Franz Schubert gegenüber. Es entwickelt sich ein Dialog zwischen den beiden, der sich zu einem bitteren Existenzkampf hochschaukelt, dessen Ausgang ungewiss bleibt. Wird der Musiker seinen Posten aufs Spiel setzen, wenn er statt des Einsatzes im kaum hörbaren Piano des Vorspiels zu Wagners Rheingold das Konzert mit einem Schrei nach Liebe unterbricht, oder erleidet doch der Kasten mit den vier Saiten zuvor noch sein schmähliches Ende als Kleinholz?

Bernie Feit fertig für das Konzert © Bettina Frenzel

Bernie Feit fertig für das Konzert © Bettina Frenzel

Durch den Kontrabass: Bernie Feit mit Bier © Bettina Frenzel

Durch den Kontrabass: Bernie Feit mit Bier © Bettina Frenzel

Im Scalarama des Theaters zum Fürchten ist das Publikum eingeladen, sich in die rumpelnden Abgründe der Musik zu begeben. „Moment... gleich... – Jetzt! Hören Sie das?“ soll auf den melodiösen Bassbogen in der Zweiten Sinfonie von Brahms aufmerksam machen. Hand aufs Herz, wer nimmt tatsächlich dieses Traggerüst jeder Art von Musik bewusst wahr? Allerdings wären ohne Bass sowohl klassische Musik als auch Jazz oder Rock unvorstellbar. Damit darf dessen Spieler unwidersprochen feststellen: „Worauf ich hinauswill, ist die Feststellung, dass der Kontrabass das mit Abstand wichtigste Orchesterinstrument schlechthin ist.“ Niemand macht sich jedoch Gedanken wie es demjenigen ergeht, der ihn bedienen muss. Süskinds Text öffnet in witzig pointierter Weise Auge und Ohr für das Lamento eines Musikers, der damit vom Leben bestraft wurde.

In der Regie von Leopold Selinger wird Solist Bernie Feit zum kompetenten Bassexperten, der endlich die Gelegenheit hat, über seinen täglichen Kampf und Krampf zu räsonieren. Er kompromittiert rücksichtslos seine Zuhörer, wenn er ihnen, mit einem Bier in der Hand, durchaus unfreundliche Wahrheiten entgegenschleudert. So fällt niemandem auf, wenn ein Bassist eklatant schön spielt; das tut weh! Dass sich die Bassgeige als eifersüchtige Partnerin aufspielt und sich sogar in den Liebesakt einmischt, ist nur eines der unangenehmen Details dieser seltsamen Liaison. Und das bei einer solchen Figur! „Schauen Sie ihn sich einmal an. Er sieht aus wie ein fettes Weib. Die Hüfte viel zu tief, die Taille total verunglückt...“ Trotzdem kann sich der Musiker in der Person von Bernie Feit dieser Erotik nicht entziehen. Wer einmal so tief gefallen ist, dem ist nicht mehr zu helfen, auch nicht mit Schuberts Forellenquintett als eine der ganz wenigen Gelegenheiten, mit dem Kontrabass in kleiner Besetzung zu reüssieren und aus der deprimierenden Anonymität einer Bassgruppe solistisch herauszutreten.

Der große Kontrabass vor dem kleinen Bernie Feit © Bettina Frenzel

Der große Kontrabass vor dem kleinen Bernie Feit © Bettina Frenzel

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