Kultur und Weindas beschauliche MagazinEVER GIVEN - Eine Kipp-Punkt-Revue, Regie Helgard Haug Hana Hazem Arabi, Adham Elsaid © Marcel Urlaub // Volkstheater EVER GIVEN Problempasticcio ohne große Depressionen
Regisseurin und Autorin Helgard Haug (Rimini-Protokoll) hat einen unübersehbaren Hang zum Unglück der Menschheit, zu deren Krisen und zum logisch darauf folgenden Kollaps. Damit ist ihr der Erfolg gewiss, denn was sonst als das auf uns einprasselnde Ungemach ist es wert, dass darüber nachgedacht und davon gesprochen wird. Für das jüngste Werk von Volkstheater Wien und Rimini Apparat in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer und Theater Magdeburg ist sie von einem im Suez-Kanal steckengebliebenen Containerschiff ausgegangen. Die unter der Flagge Panamas fahrende EVER GIVEN hat tagelang dieses Nadelöhr blockiert und damit die Weltwirtschaft angeblich oder sogar gewiss in gewaltigem Maß geschädigt. Diese Havarie ist jedoch nur der Aufhänger für einen beredten Rundblick unter Leidensgenossen im Kleinen, die vom Ende ausgehend in einer Art Endlosschleife immer wieder über sich und ihren Umgang mit den betreffenden Einschränkungen berichten – und dabei das Konzept der Depression unterlaufen.
Als Partnerin hat sich Haug die Musikerin Barbara Morgenstern engagiert, die mit ihren Kompositionen und Texten live vom Keyboard aus den Raum mit kraftvollem Sound füllt. Begleitet wird sie dabei von Daniel Eichholz am Schlagzeug. Über das Sounddesign wacht unauffällig im Hintergrund Peter Breitenbach. Eine wesentliche Kollegin des Ensembles ist die bewegliche Projektionswand, betrieben mit Modulen LED ZXI / 2mm (sie befanden sich auf der Ever Given). Darauf sind g´scheite oder auch verwirrende Sätze zu lesen, kommen nicht gelieferte Waren zu Wort oder sind massenweise Container zu bewundern. Mit der auf einer Videokachel eingespielten Marianne Vlaschits beginnt es zu menscheln. Die bildnerische Künstlerin erzählt in berührender Weise, wie sie mit dem Stottern umgeht und was sie von ihren Gesprächspartnern erwartet.
(Birgit Unterweger), Paul Grill © Marcel Urlaub / Volkstheater LIEBES ARSCHLOCH Ein „Briefroman“, von Losern getippt
Wer die „anarchische Lebenswut“ einer radikalen Feministin kennenlernen will, braucht nur Virgine Despentes Bücher zu lesen. Die Französin lässt darin an den Männern kein gutes Haar und hadert wortgewaltig mit der bloßen Existenz des anderen Geschlechts. Deswegen war das Erstaunen groß, dass sie 2022 in „Liebes Arschloch“ gemäßigte Töne angeschlagen hat. Freilich ist auch hier das männliche Wesen ein Widerling, der sich aufgrund sexueller Nötigung der Verlagsangestellten Zoé im Netz einen veritablen Shitstorm eingehandelt hat. Niemand will mehr die Werke des Schriftstellers Oscar lesen. Seine Karriere ist ebenso futsch wie die des in die Jahre gekommenen Filmstars Rebecca. Durch einen weitergeleiteten Link kommen die beiden ins gegenseitige Anschreiben. Ihre Reaktion auf sein unfreundliches Posting zu ihrer Person beginnt mit „Liebes Arschloch“ und wird zum Titel für den von Stephan Kimmig dramatisierten und inszenierten „Briefroman“.
Gut zwei Stunden netto beschreiben Birgit Unterweger als Rebecca und Paul Grill als Oscar ihren persönlichen Jammer. Das Dasein als Verlierer in einer mehr und mehr virtuellen Welt voller Missgunst verbindet. Beide kämpfen gegen analoge Süchte, gegen öde Langeweile und gegen allgemeinen Misserfolg. Sie macht dafür ihr Alter (50) verantwortlich, er die Attacken, die ihn unter #metoo zu einem Alien der Gesellschaft machen. Dazu kommt die Covid-Pandemie, die auch in Paris, dem Schauplatz dieser tristen Abhandlung, einen Lockdown generiert hat. Just im Zuge dieser eher unfreundlichen Erinnerung an unangenehme Tage lernt Rebecca das Opfer von Oscar kennen.
Lavinia Nowak, Frank Genser © Marcel Urlaub / Volkstheater BULLETT TIME Ein Mordprozess an der Wiege des Kinos
Wie bewegt sich ein Pferd, wenn es galoppiert? Diese Frage quält den Eisenbahn-Tycoon Leland Stanford, wenn er mit der Stoppuhr am Rand der Rennbahn auf seinem Anwesen mitten im heutigen Silicon Valley das Training verfolgt. Stanford hat es dank geschickter Verhandlungen und einiger einträglicher Betrügereien zu gewaltigem Reichtum gebracht. So kann er sich auch die schnellsten Rennpferde leisten und den besten amerikanischen Fotografen seiner Zeit. Eadweard Muybridge jedoch ist angeklagt. Er hat kurzerhand den Liebhaber seiner jungen Frau erschossen und steht nun vor Gericht. Galgen oder Freispruch? An dieser Stelle setzt das Stück „Bullett Time“ von Alexander Kerlin ein und erzählt mit dem Mordprozess die Geschichte des Kinos. An dessen Anfang steht also eine Bluttat, begangen von einem Genie, das die Wahrnehmung unserer Welt wie kaum jemand anderer verändert hat.
Kay Voges hat diese tiefgründige Reportage dem Inhalt gemäß in einer packenden Inszenierung zwischen Theater und Film umgesetzt und führt mit konsequent historischer Ausstattung das Publikum 150 Jahre zurück nach Kalifornien, schon damals ein Teil der USA. Links und rechts der Bühne sitzt man zu Gericht. Die Mitte ist für ergänzende Szenen wie den Mord an sich, Auseinandersetzungen in einer Bar und den Triumph der ersten laufenden Bilder reserviert. Ein Team von Live-Kameras setzt das Geschehen für eine Videowall über der ganzen Breite der Bühne um. Zwangsläufig wird dadurch die direkte Sicht von den Kameras verstellt; was aber kaum stört. Man verfolgt die einzelnen Szenen wie in Cinemascope. Die Gesichter der jeweils sprechenden Personen werden groß herausgeholt und damit Emotionen dank des grandios aufspielenden Ensembles spürbar in den Zuschauerraum übertragen.
Anke Zillich wird unter anderem zur Erzählerin, die freundlich in die nicht unkomplizierte Problematik zwischen Verbrechen und bahnbrechender Erfindung einführt. Zu Gericht sitzen Evi Kehrstephan als prominente Rechtsanwältin Victoria Pendergast und ihr Gegenpart Fabian Reichenbach mit dem Ehrgeiz des jungen Staatsanwalts Dennis Spencer.
Frank Genser, Lavinia Nowak, Stefan Suske © Marcel Urlaub / Volkstheater ROM Literaturprüfung auf Shakespearedramen
Mit „Coriolanus“ taucht William Shakespeare in das 5. Jahrhundert v. Chr. hinab, als Rom noch eine Republik war. Die Plebejer werfen den Patriziern vor, Getreide zu horten und die Masse hungern zu lassen. Aus diesem Drama stammt die berühmte Parabel vom Magen, gegen den sich die anderen Körperteile empören, ohne den sie aber verloren wären. Es erzählt die Geschichte des siegreichen Feldherren Coriolan, dem der Erfolg jedoch zu Kopf gestiegen ist, so sehr, dass er gegen die eigene Stadt marschiert und schließlich erstochen wird. Gute 400 Jahre später spielt sich um den wohl berühmtesten römischen Eroberer, Gaius Julius Caesar, ein ähnliches Geschehen ab. Bekanntlich wird er im Senat gemeuchelt, da ihm vorgeworfen wird, die Alleinherrschaft anzustreben. Einer der Attentäter ist Brutus, der wie der rhetorisch fulminante Marcus Antonius im nächsten Drama, quasi der Fortsetzung, wieder eine Hauptrolle spielt. Antonius, an sich mit der Schwester seines Kontrahenten Octavian verheiratet, wird Liebhaber der ägyptischen Königin Kleopatra. Beide kommen um, sie angeblich durch Schlangenbiss und er, da er sich in sein Schwert stürzt. Mit dem Sieg Octavians, dem späteren Augustus, kehrt für ca. 250 Jahre die Pax Romana ein. Als sich am Limes jedoch mehr und mehr Völkerschaften zusammenrotten und das Reich bedrohen, ist es vorbei mit der prosperierenden Periode. Die Zeit für Titus Andronicus ist gekommen. Seinen Legionen gegenüber stehen die Goten mit ihrer Königin Tamora. Grausamkeiten und Rachegelüste auf beiden Seiten führen zu einem allgemeinen Gemetzel, das nur der Sohn von Titus überlebt, um der nächste Kaiser zu werden. Die Autorin Julia Jost hat diese Heerschar von Toten und das ganze Drumherum zu einem Stück zusammengefasst. Dabei hat sie den Originaltext recht frei überschrieben und von William Shakespeare nur einige Zitate ausgeborgt. „ROM“ ist der Titel dieses literarischen Medleys, das für das Volkstheater einen der ganz großen Regisseure gefunden hat. Luk Perceval hat mit einer hohen Wand, die sich bedächtig dreht, und einem Wasserbecken als Ausstattung sein Auslangen gefunden, um die den einzelnen Tragödien entsprechende Wirkung zu erzeugen. Einen bedeutenden Anteil daran hat auch die Musikerin Lila-Zoé Krauß. Sie singt eindringlich und schafft mit ihrer Anlage eine Soundkulisse, die jeweilige Stimmungen enorm verstärkt.
Lucas Gregorowicz, Birgit Unterweger © Marcel Urlaub / Volkstheater DIE UNBEKANNTE AUS DER SEINE Horváths Reim zur schönen Wasserleich´
Die Bohème war aus dem Häuschen. Um 1900 tauchte in Paris eine aus feinem Porzellan gefertigte Totenmaske einer Frau auf. Ein Mitarbeiter der Pariser Leichenschauhalle berichtete, dass er dieses Gesicht einer mutmaßlichen Selbstmörderin abgenommen hätte. Die Frau war aus der Seine gefischt worden, aber statt wie üblich aufgequollener Züge hatte sich ein feines Lächeln erhalten, das ihr bald den Ruf einer Art Mona Lisa einbrachte. Abgesehen vom makaberen Schlafzimmerschmuck, den diese Maske darstellte, inspirierte sie Literaten, die den nach innen gewandten Blick hinter den geschlossenen Augen zu deuten versuchten. Die Fama erreichte auch Ödön von Horváth, der 1933 ein Drama über diese Unbekannte verfasste. Für ihn war ihr Tod die Folge einer unerklärlichen Leidenschaft dieser Frau für einen Kleinkriminellen, der einen Uhrmacher erschlagen hatte. Die Unbekannte wusste von diesem Mord, war sein Alibi und sogar bereit, sich das Leben zu nehmen, um ihn nicht durch eine unbedachte Bermerkung zu verraten.
Es war mehr als eine gewagte Interpretation, die Horváth als Komödie (drei Akte mit Epilog) bezeichnete, wohl der Absurdität wegen, die er hinter dem Motiv für diesen Suizid bemerkte. Regisseurin Anna Bergmann hat mit Einfällen wie RoboCops und einem Kinderchor mit schwarzen Luftballons am Anfang oder einem Schleier tragenden Bräutigam, der am Polterabend die Seiten wechselt, einige harte Denknüsse zur Entschlüsselung von Horváth geliefert. Wäre sie nur auf dieser Schiene geblieben! Ein Abend mit tiefsinnigen Überraschungen, egal wie verständlich sie sind, ist spannend. Aber sie hat auch das Komödiantische sehr ernst genommen. Ihre Protagonisten sind durchwegs verhaltensauffällige Personen. Es wird unnötig herumgeschrien und übertrieben, gekasperlt, mit Herumrollen auf dem Boden, Platschen im Wasser eines Zimmerregens und spastischen Gesten, offenbar um Lacher zu generieren, die vom Premierenpublikum auch dankbar gespendet wurden. Dazwischen wird es feierlich: Eine großartige Sona MacDonald singt vertonte Gedichte von Christine Lavant – bevor sie als Uhrmacherin blutig erschlagen wird. Birgit Unterweger ist die attraktive Unbekannte, die sich ausgerechnet an den Schwächling Albert (Lucas Gregorowicz) hängt. Der jedoch will unbedingt seine Ex (Evi Kehrstephan als Irene) vom eitlen Ernst (Christoph Schüchner) zurückgewinnen. In weiteren Rollen hüpfen, tanzen und tapsen Günther Wiederschwinger als Nicolo, Irem Gökçen (Klara), Nick Romeo Reimann (Emil) oder Uwe Schmieder als alte Wirtin und Nixe(?) durch das Geschehen. Begeisterter Applaus war damit sowohl dem Ensemble als auch dem Leading Team sicher, obgleich es auch ob einer persönlich als solche empfundenen Schmiere manch betretenes Gesicht in den Zuschauerreihen gegeben hat. Ceterum censeo: Wenn schon Videos mit Großaufnahme, dann bitte einigermaßen synchronisiert! HEIT BIN E NED MUNTA WUAN, Regie Wolfang Menardi, Ensemble © Marcel Urlaub / Volkstheater HEIT BIN E NED MUNTA WUAN Tod & Leich als Wiener Lebenselixier Im Publikum wurde gerätselt, ob diese Unterbrechung zum Stück gehört oder ein ernster medizinischer Fall ist. Auf dem Balkon entstand Unruhe, die irgendwann auch Frau Q. auf der Bühne erreichte. Als Stimmen von oben nach einem anwesenden Arzt fragten, zeigte sich deren Darsteller Samouil Stoyanov seltsam erleichtert. Was hatte er erwartet? Aber so oder so, der Vorhang wurde zugezogen. Der kaufmännische Direktor des Hauses konnte nach zehn Minuten Entwarnung geben. Der Patient sei medizinisch gut versorgt, hieß es, die Aufführung könne fortgesetzt werden. Die Hauptgestalt des Abends hatte die Person somit verschont. Der Quiqui lässt also doch mit sich spaßen, zumal die poetische Kollage von Wolfgang Menardi mit dem Titel „Heit bin e ned munter wuan“ als Liebeserklärung an den Tod ausgelobt wird. Verwendet werden ausschließlich Texte von Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener und Zitate aus dem Dokumentarfilm „Die Pompfüneberer – Ein Tag auf dem Wiener Zentralfriedhof“ von Árpád Bondy und Margit Knapp.
Claudia Sabitzer ist ein beredtes Mitglied der Bestattung Wien. Als Pompfüneberer (für alle, die es eventuell nicht wissen: diese wienerische Berufsbezeichnung kommt vom französischen Pomp funebre und bedeutet „Begräbnisprunk“) ist ein solcher für den reibungslosen Ablauf einer Bestattung verantwortlich. Das beginnt mit der Einweisung der jeweils Trauernden in die richtige Halle über das Aufdrehen des neunflammigen Leuchters und der Lebenskerze bis zum Handaufhalten beim Überreichen des mit Erde gefüllten Schauferls am Grab. Ohne Musik ist so ein Event trauriger als er ohnehin schon ist. Also wird bestellt. Number one in den Friedhof-Charts ist mit Abstand das Ave Maria. Wenn Samouil Stoyanov, angetan mit braunem Kittel, als Frau Q. das Radio aufdreht, ertönt diese Melodie, und zwar auf jedem Sender.
Frank Genser, Lavinia Nowak, Nick R. Reimann, Hasti Molavian, Birgit Unterweger, Uwe Rohbeck, Elias Eilinghoff © Marcel Urlaub/Volkstheater DIE ANGESTELLTEN Zukunftsangst und Langeweile, bitter!
Der Text auf dem Programmzettel ist vielversprechend. Von einem Roman aus der Feder der dänischen Poetin Olga Ravn ist die Rede und von einem Raumschiff in den Weiten des Weltalls. Die Besatzung ist teils Mensch, teils Roboter. Die Erde liegt weit hinter ihnen und eine Rückkehr ist höchst unwahrscheinlich. Was sich wie eine spannende Reise in die Zukunft ausnimmt, ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Zuseherschaft. Da diese aber zum guten Teil aus aufgeschlossenen jungen Leuten besteht, wurde die eigenwillige Bearbeitung von Alexander Giesche als Visual Poem zum Megaerfolg. Die Jugend, im Gegensatz zu uns zappeligen Alten, hat offenbar unendlich viel Geduld. Wo in die Jahre gekommene Abonnenten entrüstet aufstehen oder sich mit einem Schläfchen die Zeit vertreiben, harrt der Nachwuchs mit wachen Sinnen einer nicht und nicht eintretenden Spannung.
Gefühlte 20 Minuten wird mit einer Art Techno eingangs Wirbel gemacht. Das Ensemble steht auf der sich langsam drehenden Bühne und deutet Tanzbewegungen an. Danach wird eine Kamera zum Spielzeug, das Gesichter und Körper allmählich zu verzerren beginnt und damit zwei Projektionsflächen mit attraktiven abstrakten „Gemälden“ füllt. Da sich auch dabei wenig tut, muss endlich mit dem Sprechen begonnen werden. Leuchtstoffröhren zeigen an, wer gerade an der Reihe ist, gescheite Sätze aus Ravns Roman „Die Angestellten“ zu zitieren. Einmal beklagt ein Mensch, dann ein Humanoide sein Schicksal. Die Frage wird aufgeworfen, ob es möglich ist, ein Ding wie einen Menschen zu lieben und einen Menschen wie ein Ding zu lieben.
Der Diener zweier Herren, Ensemble © Marcel Urlaub/Volkstheater DER DIENER ZWEIER HERREN Goldoni „revolutionär“ interpretiert
Über dem mittlerweile aufgelassenen Friedhof Sainte-Catherine in Paris gab es kürzlich große Aufregung. Von tief unten drangen vehemente Erschütterungen an die Oberfläche. Die Erklärung: Carlo Goldoni, der virtuose Erneuerer der Comedia de l´Arte, hat sich im Grab umgedreht, als er von der Premiere seines Stückes „Der Diener zweier Herren“ im Wiener Volkstheater Kenntnis erlangt hat. Zu verdanken hat er diese Rotationen dem ausgewiesenen Experten für Bühnenanarchie und Schauspielvirtuosität, Antonio Latella. Er schafft bereits mit einem nicht vorhandenen Bühnenbild die Herausforderung, sich zwischen den schwarzen Wänden eine Piazza in Venedig vorzustellen. Vertraut sind einzig die Geräusche gurrender Tauben und die damit verbundene Angst, dass sie einen auf den Schädel scheißen könnten. Gegen Ende ist auch damit Schluss, da die Vögel verendet massenhaft vom Himmel fallen.
In dieser nicht groß anregenden Szenerie ist ein unglaublich tapferes Ensemble am Werk. Es wird extrem geblödelt, herumgehüpft wie ein Haufen Narren, dabei werden Gesichter geschnitten und die Bewegungen ins vermeintlich Komische übersteigert, während einzelne Sätze bis zur Unerträglichkeit wiederholt werden, und das alles wegen ein paar Lacher. Dazwischen gibt es einen moralinsauren Protestsong gegen Patriarchat und Femizid. Damit sind wir bereits bei Smeraldina und Lisa Schützenberger, die abgesehen davon diese mannstolle Dienerin verkörpert. Irem Gökçen ist eine reizende Clarice, die Silvio ehelichen will. Ihrem Geliebten wird allerdings übel mitgespielt. Mangels eines Degens lässt Mario Fuchs die Hosen herunter, um den angeblichen Rivalen mit seinem Bimmel herauszufordern, bis er daran schmerzlich durch das Geschehen gezerrt wird.
Murali Perumal, Christoph Schüchner, Gerti Drassl, Lavinia Nowak © Marcel Urlaub / Volkstheater DIE (kleine) REDAKTION, die sich mit der großen OMV anlegt.
Es genügt ein Blick auf ihre Seite, um zu erkennen, was investigativer Journalismus imstande ist. Dazu gehört allerdings auch finanzielle Freiheit. Deswegen gibt es bei „Dossier“ keine bezahlte Werbung. Wovon leben die denn dann? Sie haben Leser, die das Druckmagazin kaufen, und vor allem Mitglieder, denen die Arbeit von Chefredakteur Florian Skrabal und seinem Team sogar einen finanziellen Beitrag wert ist. Sie geben freiwillig (online ist ja alles gratis nachzulesen) dafür Geld aus, dass regelmäßig heiße Themen aufgegriffen und einer in die Breite wachsenden Öffentlichkeit präsentiert werden. Calle Fuhr, ein in Düsseldorf geborener Theatermann, hat für das Volkstheater aus der Historie dieses überaus kritischen Portals eine Geschichte für die Bühne aufbereitet, die nun von den Außenbezirken ins Haupthaus übersiedelt ist. Darin geht es im Großen und Ganzen um den Vorstandsvorsitzenden der OMV namens Rainer Seele und dessen Umtriebe und letztlich dessen unrühmliches Ende in diesem halbstaatlichen Konzern.
Murali Perumal (Ashwien), Gerti Drassl (Flo), Christoph Schüchner (Georg) und Lavinia Nowak (Sahel) sind fürs Erste die vier Redaktionsmitglieder, die den Kampf mit dem übermächtig scheinenden Öl- und Gashändler aufnehmen. David gegen Goliath ist ein Euphemismus. Besser beschreibt der Vergleich einer Fliege mit einem Ochsen, der mit dem Schwanz um sich schlägt, das Größenverhältnis. Allein das Gehalt des Herrn Seele übertrifft das Budget dieser Kleinstredaktion um das Millionfache. Unausgesprochen steht dabei die Frage im Raum:
DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN!, Regie Kay Voges Ensemble © Marcel Urlaub / Volkstheater DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN! in einer hinterhältig grellen Gameshow
Das Setting ist ungemein realistisch. Eine TV-Liveübertragung von „DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN! Die Gameshow für Österreich“ ist angesagt. VJ Veal (Max Hammel) und DJ Pig (Fiete Wachholtz) stimmen die Studiogäste, also die Zuschauer, mit glitzernder Stimmungsjacke und entsprechenden Sounds darauf ein und animieren zum Scan eines groß eingeblendeten QR-Codes. Pünktlich erscheint das Moderatorenpaar Michelle Pelosi (Anke Zillich) und Tommy McDonalds (Elias Eilinghoff als Gottschalkverschnitt) und geht straight in medias res. Routiniert werden die vor guter Laune aufgeregt zappelnden Kandidaten vorgestellt. Zwei Millionen Euro liegen bereit, die den Sieger dieses Spiels reich und glücklich machen werden. Die Regeln: Aus jeweils drei Antworten auf eine Problemstellung gibt das Publikum per Handyvoting seine Meinung ab. Mit dem den Älteren vom Kinderfernsehen bekannten Spruch „Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht“ haben sich die unschlüssig hüpfenden Damen und Herren für eines von drei Feldern zu entscheiden. Wie richtig ihre Wahl war, entscheidet das Ergebnis der Befragung, die vom DJ verkündet wird. Wer richtig geraten hat, darf als Belohung einen Ball in sein Körbchen werfen.
Was sich lustig anhört, wird im Verlauf des Abends zu einer allgemeinen Entblößung, obwohl sogar Friedrich Schiller aufgeboten wird, um mit knarrender Stimme die einzelnen Themengebiete anzugeben. Es folgt ein Statement mit drei Möglichkeiten einer Antwort. Das Angebot ist jedoch problematisch und wäre ohne ausgiebige Diskussion und Abstimmung mit dem eigenen Gewissen nicht zu bewältigen. Aber es wird auf dem Smartphone frisch drauflos getippt.
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